Beitrag FemWiss im Alternativbericht des Netzwerks IK

Artikel 11: Datensammlung und Forschung

Hintergrund:

Es gibt in der Schweiz aktuell keine Stelle/Plattform die die Forschung zum Themenbereich der Istanbul Konvention in ihrer Breite (re)präsentiert. Es gibt punktuell staatliche Forschungsförderung im Bereich Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt im Rahmen nationaler Forschungsprogramme (NFP 29, 35, 40, 60) oder im Rahmen einzelner Forschungsprojekte beim Nationalfonds. Grundsätzlich hat sich das BAG in den letzten 30 Jahren jedoch nicht sonderlich für das Thema interessiert, ausser für Studien im Zusammenhang mit Alkohol. Es scheint als würde Forschung resp. Studien nur dann durchgeführt, wenn die Bundesverwaltung dazu gezwungen wird, zum Beispiel im Rahmen von Anfragen aus dem Parlament (z.B. Evaluation ZGB 28b oder 2019 Maja Graf: Tötungsdelikte). Da gab es in letzter Zeit z. Bsp. Studien zu Screening und innerfamiliärer Gewalt gegen Kinder (Postulat Feri), Stalking (Postulat Feri; Büro Bass) und zu Gewalt im Alter (Postulat Glanzmann-Hunkeler; BSV; HSLU). Ausschreibend sind dann auf Bundesebene im Allgemeinen das EBG (Eidgenössische Büro für Gleichstellung), das BJ (Bundesamt für Justiz) und das BSV (Bundesamt für Sozialversicherungen), in Zusammenarbeit oder einzeln.

 

Für die Themen über die von Amtes wegen geforscht wird, setzt der Bundesrat die thematischen Schwerpunkte. Was bedeutet, dass letztlich die Politik die Themen setzt. Die Istanbul Konvention scheint bei den Behörden keine Priorität zu haben. In Vergabestellen von Fördermitteln, wie zum Beispiel dem SNF (Schweizer Nationalfonds), sind dann auch die Personen die über Forschungsanträge befinden nur zu einem tiefen Grad über die Themen der Istanbul Konvention sensibilisiert.

 

Häusliche Gewalt und insbesondere Gewalt gegen Frauen im sozialen Nahraum wurde in den vergangenen Jahrzehnten zunehmend wissenschaftlich untersucht. Diese Forschungen fokussieren sich jedoch primär auf Arten der Gewalt und Prävalenz und zunehmend auch auf Kosten (Kostenstudien) sowie Evaluationen von Interventionen. Qualitative Studien, die sich beispielsweise mit Gewalt aus der Betroffenenperspektive oder im weiteren auch aus der Perspektive der Gesamtgesellschaft vor dem Hintergrund der Sensibilisierung und den Wechselwirkungen von Normen und Gewalt auseinandersetzen, gibt es dagegen kaum.

 

Es gibt in der Schweiz Institute, die sich mit der Erforschung des Themenbereichs der IK befassen, diese werden jedoch vom Bund nicht gezielt gefördert.

 

Forderungen:

Wir fordern eine systematische Datensammlung auf dem Gebiet aller in den Geltungsbereich dieses Übereinkommens fallenden Formen der Gewalt und eine fortlaufende, gründliche Analyse, damit Kontrolle und Evaluierung von Auswirkungen politischer Massnahmen möglich sind.

 

Wir fordern, dass Vergabestellen von Förder-, und Forschungsmitteln auf die Themen der IK sensibilisiert sind. Wenn es um die Vergabe von Forschungsgeldern geht, müssen Förderkriterien zentralisiert gehandhabt und Drittmittelgeber auf die Themen der Istanbul Konvention wie auch auf die Förderung einer intersektionalen Wissensproduktion sensibilisiert werden. Auch Stiftungen müssen für das Thema Gewalt gegen Frauen/häusliche Gewalt sensibilisiert werden, denn diese Themen sind dort viel zu oft kein Thema.

 

Wir fordern vom Bund die Finanzierung eines Kompetenzzentrums, welches sich im Bereich Gewalt gegen Frauen und häusliche Gewalt engagiert. Eine solche Stelle könnte Forschung betreiben, diese sammeln und zugänglich machen. Sie könnte Anlaufstelle für Fachleute sein und sich im Bereich des Austauschs zwischen Wissenschaft und Praxis Expertise aneignen. Die enge Zusammenarbeit der Wissenschaft mit der Praxis scheint uns enorm wichtig, erkennen doch Praxisfachpersonen oft sehr früh neue Probleme auf die die Forschung dann gezielt und zeitnah eingehen könnte. Ein solches Kompetenzzentrum sollte von der öffentlichen Hand finanziert, aber unabhängig sein.

 

Wir fordern die Förderung einer intersektionalen Wissensproduktion. Hierfür müssen vorab die Strukturen von Universitäten und Fachhochschulen so korrigiert werden, dass die intersektionale Perspektive integraler Bestandteil der gesamten Hochschulpolitik und insbesondere der Personalpolitik ist. Dazu braucht es Untersuchungen, die zeigen, wie die Diskriminierungsmechanismen und ihre Verschränkungen funktionieren, damit wirksame und verbindliche Konzepte erarbeitet werden können. Nur so wird es gelingen, inklusive diskriminierungsfreie Kompetenzen in allen Funktionen zu verankern. Im Hinblick auf die Gleichstellung sowie den Kampf gegen geschlechtsspezifische Gewalt, ist insbesondere die interdisziplinäre Geschlechterforschung eine wichtige Akteurin. Die interdisziplinäre Geschlechterforschung wirft einen kritischen Blick auf die universitäre Wissensproduktion und leistet durch ihre Analyse von kulturellen, medialen, sozialen, historischen und politischen Phänomenen einen wesentlichen Beitrag zur Evaluation von gesellschaftspolitischem Handlungsbedarf. Als Ort der intersektionalen Forschung, für Forschung also, die Geschlecht in Bezug auf unterschiedliche Ungleichheitsdimensionen in den Blick nimmt, bietet sie ein Erkenntnispotential, welches wir als Gesellschaft (an)erkennen, fördern und nutzen müssen.

 

Wir fordern die Abschaffung geschlechtsspezifischer Karrierehindernisse und im Endeffekt eine angemessene Vertretung von Frauen* und People of Color in der Forschung. In der Schweizer Forschungslandschaft sind Frauen* und People of Color immer noch zu selten an Stellen, an denen sie auf die Forschung Einfluss nehmen, Projekte realisieren und Entscheidungen fällen können. Dieser Umstand erschwert es massiv, grosse Forschungsprojekte umzusetzen. Für eine kohärente Strategieumsetzung im Bereich Chancengleichheit und Gleichstellung braucht es deshalb ein koordiniertes Vorgehen sowie verbindliche diskriminierungssensible Mindestkriterien, welche an allen Universitäten und Hochschulen gleichermassen gelten. Werden diese Kriterien nicht erfüllt, muss dies sanktioniert werden. Ausserdem muss der horizontalen wie auch der vertikalen Segregation vehement entgegengewirkt werden. Bezüglich vertikaler Segregation heisst das konkret:

  • Frauen*förderung ist nach wie vor in allen Fachgebieten nötig, ausserdem braucht es fächerspezifische Gleichstellungsmassnahmen und -gefässe.

Bezüglich vertikaler Segregation müssen Karrierewege von hochqualifizierten Frauen* und von Müttern im Besonderen von geschlechtsspezifischen Hindernissen befreit werden. Konkret heisst das:

  • Einrichtung einer substantiellen Anzahl von Assistenzprofessuren an Schweizer Universitäten (inkl. ETH) mit Option auf unbefristete Anstellung für eine bessere Planbarkeit von universitären Karrieren.
  • Neuorganisation des Doktorat-Studiums durch systematische Mehrfachbetreuung, längere Forschungszeit, flexiblere Anstellungsformate und angemessenere Entlohnung.
  • Generell mehr Unterstützungs- und Entlastungsmassnahmen auf Seiten der Institutionen, um forschende Mütter zu fördern. Beispielsweise: die Bereitstellung von flexiblen Förder- und Entlastungsinstrumenten wie Teilzeitprofessuren (für ALLE!), keine karriererelevanten Veranstaltungen und Sitzungen ab 17:00 Uhr oder die Finanzierung von Hilfskräften und zusätzlicher Kinderbetreuung ‒ insbesondere auch am Abend, wenn ein Grossteil der karriererelevanten Sitzungen stattfinden.

Für beide Vorhaben ist eine langfristige Perspektive nötig. Für eine kohärente Strategieumsetzung im Bereich Chancengleichheit und Gleichstellung braucht es ein koordiniertes Vorgehen sowie verbindliche diskriminierungssensible Mindestkriterien, welche an allen Universitäten und Hochschulen gleichermassen gelten.

  • Geschlechtersegregierte Daten müssen auf allen Karrierestufen erhoben und veröffentlicht werden und die Vergleichbarkeit muss gegeben sein. Durch regelmässiges Controlling müssen die gesteckten Gleichstellungsziele ausgewertet, die Problemstellungen analysiert und das darin enthaltene Lösungspotential ausgeschöpft werden.

Wir fordern die Förderung partizipativer Forschung. Um möglichst praxisrelevante Forschung in Bezug auf gesellschaftsimmanente Hierarchien, und die damit zusammenhängenden Formen von Gewalt betreiben zu können, müssen insbesondere partizipative Formen der Forschung gefördert werden. Das heisst, Forschungsmethoden, welche die Perspektive von Beteiligten und Betroffenen ebenso in die Forschungsprozesse einbeziehen, wie die wissenschaftliche. Solche Methoden zielen nicht auf reine Erkenntnisgewinne ab; sie haben eine doppelte Zielsetzung: Verstehen und Verändern.

 

Die Vorzüge in Kürze:

  • Die Forschungsfragen greifen reale Anliegen aus der Praxis auf.
  • Die Beteiligten werden gestärkt und Schäden durch Mitsprache und Kompetenzentwicklung vermieden.
  • Forschung ist auch mit scheinbar «schwer erreichbaren» Gruppen möglich.
  • Erhebungsinstrumente, Rekrutierung und Verbleibquoten werden verbessert.
  • Ergebnisse können kontext- und kultursensibel durch lebensweltliche Expertise und Perspektiv-Verschränkung interpretiert werden.
  • Die Ergebnisse haben praktischen Nutzen und Relevanz über das Wissenschaftssystem hinaus.

Wir fordern, dass Forschung im Themenbereich der Istanbul Konvention (und darüber hinaus) folgenden Kriterien entspricht:

  • geschlechtersensibler Zugang (Methodologie / separate Untersuchungen nach Geschlecht / Gewalt gegen FTIQ ist nicht mit Gewalt gegen Männer gleichzusetzen)
  • angemessene Berücksichtigung der Sicht von Betroffenen (partizipative Forschung)
  • ausreichend grosse und diverse Fokusgruppen (Einbezug von bspw. Migran*innen, Asylbewerber*innen)
  • getroffene Massnahmen müssen evaluiert werden
  • Forscher*innen resp. Auftragnehmer*innen müssen sich im Themenbereich fundiert auskennen
  • Auftragsstudien müssen über genügend Zeit und Finanzen verfügen
  • Wissen und Erfahrung der Fachleute und Fachinstitutionen muss einbezogen werden
  • Internationale Forschungsstands, insbesondere die europäischen, müssen berücksichtigt werden
  • Forschung muss unabhängig sein, d.h. keine Selbst-Evalutation durch Bund oder Kantone
  • die Mehrheitsgesellschaft muss mitberücksichtigt werden (verstärkt intersektionale Perspektiven und Wechselwirkungen zwischen Diskriminierung und Privilegien vor dem Hintergrund von Verletzungsverhältnissen, Umgangsstrategien etc.)
  • geschlechtsbezogene Gewalt muss in strukturelle und gesellschaftliche Verhältnisse gesetzt werden
  • eine genuin sozialtheoretische Perspektive ist nötig, damit die Deutungen von Gewalt und deren soziale Reproduktion untersucht werden kann. Solche Forschung gibt es – wenn auch bisweilen noch sehr wenig – insbesondere zu Gewaltformen und ihren Ausmassen. Und einige wenige – aber kaum – qualitative Forschungen, die beispielsweise Wechselwirkungen (z.B. die räumliche Verortung der Gewalt bei Gewalt gegen Frauen) in den Fokus nehmen. Oftmals verbleiben diese Forschungen jedoch auf einer Ebene, auf der Gewalt oder die Deutungen von Gewalt für die Forschung zugänglich gemacht wird. Das soziale Phänomen wird zugänglich oder es werden gar Theorien gebildet, wie diese Deutungen sozial produziert werden (eine genuin sozialtheoretische Perspektive). Darüber hinaus ist es jedoch notwendig, auch zusehends gesellschaftstheoretische Perspektiven einzunehmen. Das heisst beispielsweise: ableitend aus den empirischen Erkenntnissen muss auch ein Beitrag zum Wissen geleistet werden, wie beispielsweise Gesellschaft beschaffen sein sollte und es müssen Handlungsweisen zwecks Erreichen dieser Zustände vorgeschlagen werden. Das heisst, es braucht Forschungen und Theoriebildung mit dem Ziel, ausgehend von empirischen Befunden, zu einer integrierenden Gesamtsicht der Gesellschaft und der Gewaltverhältnisse. Konkret braucht es:
  • Empirie-begründete Theoriebildung
  • mehr qualitative Forschung

Wir fordern (mehr) Forschung in folgenden Themenbereichen:

  • «Was» ist für «wen» Gewalt? Wie wird diese Gewalt gedeutet? Wer erlebt sie? Und wie wird damit umgegangen? Wie können eigene Grenzen auch als solche wahrgenommen und diese Selbstwahrnehmung der Grenzen bestärkt werden?
  • Intersektionale Forschung zu Betroffenengruppen in ihrer Vielfalt und Umgangsstrategien eingebettet in Macht- und Herrschaftsverhältnisse
  • Psychische Auswirkungen auf Frauen, die häusliche Gewalt erfahren haben
  • Asylwesen, Sicherheit in Asylzentren, Zugang zu Angeboten (insbesondere auch juristische Hürden, z.B. Opferhilfe, Zugang zu Bedenkzeit für Asylsuchende, etc.)
  • Care Ökonomie
  • sexualisierte Gewalt im Wissenschaftsbetrieb
  • Analyse verschiedener Unterstützungsangebote für Frauen, die Gewalt erfahren haben: Frauenhaus, Face-to-face-Beratung, Telefonberatung, Onlineberatung, Chatberatung etc.
  • Bedingungen von Veränderungen bei Männern, die Gewalt ausüben.
  • Evaluation zu Behörden, Gerichten, Programmen zum Thema Männer, die Gewalt ausüben und die Möglichkeiten, sie zur Verantwortung zu ziehen.