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«Ja heisst Ja» - eine wissenschaftliche Perspektive zur Reform des Sexualstrafrechts

Das geltende Sexualstrafrecht ist veraltet und muss dringend reformiert werden. FemWiss setzt sich für eine zeitgemässe Reform des Sexualstrafrechts und eine Umsetzung der «Ja-heisst-Ja» Variante ein. Diese Umsetzung würde bedeuten, dass die Zustimmung der beteiligten Personen im Fokus steht und Geschlechtsverkehr ohne Einwilligung als Vergewaltigung anerkennt werden würde. Ohne diese Umsetzung werden wissenschaftliche Tatsachen ignoriert und die Realitäten sexueller Übergriffe zu wenig berücksichtigt. Das betrifft insbesondere die folgenden Aspekte:

 

Freezing

Das aktuelle Sexualstrafrecht ignoriert die bei einem sexuellen Übergriff häufig auftretende physiologische Reaktion des «Freezing». Dies bezeichnet den natürlichen Schock- oder Lähmungszustand der Opfer, was eine aktive Gegenwehr verunmöglicht. Eine 2017 veröffentlichte Studie kam zum Schluss, dass 70% der 298 in der Studie erwähnten Frauen bei einem Übergriff in eine Schockstarre verfielen. In einem solchen Zustand ist es für die betroffenen Personen nicht möglich, Nein zu sagen oder sich gar körperlich zu wehren. Das Fehlen einer aktiven physischen Widersetzung bedeutet aber noch lange nicht, dass eine Zustimmung vorliegt. Daher braucht es die «Ja-heisst-Ja» - Formulierung, um sicherzustellen, dass die Person auch tatsächlich in der Lage ist, ihr Einverständnis zu geben und die sexuelle Handlung somit mit beidseitiger Zustimmung stattfindet.

 

Die Rolle der Istanbul Konvention in der Schweiz

Die Schweiz ist 2017 dem Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen (Istanbul Konvention) und häuslicher Gewalt beigetreten. Somit muss die Schweiz umfassenden Massnahmen gegen geschlechtsspezifische und häusliche Gewalt und für die Gleichstellung der Geschlechter ergreifen. In der Istanbul Konvention im Art. 36 Absatz 2 ist ebenfalls festgehalten: «Das Einverständnis der Person muss freiwillig als Ergebnis ihres freien Willens, der im Zusammenhang der jeweiligen Begleitumstände beurteilt wird, erteilt werden.». Dieser Grundsatz kann nur mit der «Ja-heisst-Ja» - Formulierung vollständig umgesetzt werden. Dieser Fokus auf das Einverständnis der Person muss auch im Schweizer Sexualstrafrecht verankert und in der Gesellschaft präsent werden. Durch die Istanbul Konvention haben bereits mehrere europäische Länder ihr Sexualstrafrecht angepasst. Die Schweiz muss da unbedingt mitziehen. Denn mit dem derzeit geltenden Recht verstösst die Schweiz gegen die internationalen Menschenrechtsstandards, für die sie sich selbst verpflichtet hat.

 

Unabhängigkeit des Geschlechts

Gemäss dem aktuellen Sexualstrafrecht wird die Vergewaltigung als erzwungener Geschlechtsverkehr mit einer weiblichen Person im Artikel 190 Strafgesetzbuch (StGB) definiert. Menschen ohne Vagina können somit per Gesetz kein Opfer einer Vergewaltigung sein und entsprechende Straftaten sind darin nicht ausdrücklich geregelt. Diese Formulierung stigmatisiert männliche Opfer eines sexuellen Übergriffes zusätzlich und erlaubt keine verlässlichen Rückschlüsse auf die Häufigkeiten entsprechender Gewalttaten. Die Definition einer Vergewaltigung muss im neuen Sexualstrafrecht geschlechtsneutral ausgelegt werden und jegliche vaginale, orale oder anale Penetration ohne Einwilligung als Straftat klassifiziert werden.

 

 

Weitere Informationen und Hinweise:

Amnesty International: https://www.amnesty.ch/de/themen/frauenrechte/sexualisierte-gewalt/dok/2019/sexuelle-gewalt-in-der-schweiz/switzerland-legislation-on-rape-a-human-rights-analysis.pdf

Operation Libero: https://www.operation-libero.ch/de/nur-ja-heisst-ja

Humanrights.ch: https://www.humanrights.ch/de/ipf/menschenrechte/frau/revision-sexualstrafrecht-einwilligung

Umsetzung der Istanbul Konvention in der Schweiz: https://istanbulkonvention.ch/assets/images/elements/Alternativbericht_Netzwerk_Istanbul_Konvention_Schweiz.pdf

 

An den Frauen darf nicht noch mehr gespart werden!

Konkrete Forderungen statt Applaus

 

Bei diesem Text handelt es sich um einen Auszug aus dem Diskussionsbeitrag «Corona, Krise und Care-Arbeit» von WIDE Switzerland, welcher im FemInfo (2020, 55. S. 12-16) publiziert wurde. Die ungekürzte Fassung findet sich hier: www.wide-switzerland.ch/de/home.

 

WIDE Switzerland ist ein unabhängiges, feministisches Netzwerk. WIDE setzt sich mit Care-Ökonomie auseinander sowie mit Wirtschafts-, Sozial- und Entwicklungspolitik. WIDE vermittelt Wissen, lanciert Diskussionen und nimmt politisch Einfluss. Der WIDE-Debattierclub zu Politik, Ökonomie und Care ist ein selbstorganisiertes Gefäss für die Diskussion aktueller politischer Fragen aus der Perspektive der Care-Ökonomie. In diesem Rahmen wurde das vorliegende Diskussionspapier verfasst, mit welchem die Autorinnen dazu beitragen, den Applaus für die sogenannt systemrelevanten Care-Arbeitenden in konkrete Forderungen zu übersetzen und eine politische Debatte zur Zukunft der guten Sorge um und für Menschen zu lancieren.

 

Text: Céline Angehrn, Theres Blöchlinger, Jelena Lenggenhager, Mascha Madörin, Urslé von Mathilde, Simona Isler, Anja Peter, Heike Wach und Therese Wüthrich

 

Wir stellen fest

1. Unter Care-Arbeit verstehen wir alle unbezahlte und bezahlte Arbeit rund um die Sorge für und die Versorgung von Menschen. Care-Arbeit ist entscheidend, wenn es um den Lebensstandard und das Wohlergehen von uns allen geht: um die Gesundheit, das Aufziehen von Kindern, die Betreuung von Angehörigen, Freiwilligenarbeit, die Lebensmittelversorgung und soziale Sicherheit.

 

2. Rund zwei Drittel der Wirtschaft ist Care-Arbeit. 69 Prozent aller Arbeit in der Schweiz – in Stunden gemessen – wird im Sektor der Sorge- und Versorgungswirtschaft geleistet. (1) Und trotzdem gibt es weder eine landesweite Debatte über diesen Sektor, geschweige denn eine Strategie zu dessen Organisation und Finanzierung.

 

3. Care-Arbeit ist nicht wie jede andere Arbeit: 1. Sie findet zwischen Menschen statt, und physische Nähe ist meistens zentrales Element dieser Arbeit. Deshalb sind Personen, die Care-Arbeit leisten, einem höheren Infektionsrisiko ausgesetzt. 2. Sie ist systemrelevant, d.h. elementar für unsere Leben. Auf diese Arbeit kann nicht verzichtet werden.

 

4. Frauen leisten den Hauptanteil der Care-Arbeit – bezahlt und unbezahlt.

 

5. Im gesamten Care-Sektor fehlt es an zeitlichen, finanziellen und personellen Ressourcen. Die Löhne und Arbeitsbedingungen sind im Vergleich zu anderen Branchen schlecht, der grösste Teil der Sorge- und Versorgungsarbeit wird zudem unbezahlt geleistet. Care-Arbeit und Care-Arbeitende sind in den zentralen Entscheidungsgremien des Bundes ungenügend repräsentiert.

 

6. Die Corona-Krise verdeutlicht die Bedeutung der Care-Arbeit und verschärft den Mangel an Ressourcen und politischer Repräsentation. Frauen tragen mit ihrer Care-Arbeit überverhältnismässig viel zur Bewältigung der Krise bei. Es sind hingegen in der Überzahl nicht-care-arbeitende Männer, die politische Entscheidungen fällen und die Krise managen.

 

Wir fordern

1. Eine nationale Taskforce «Sorge- und Versorgungswirtschaft» mit Einbezug von Fachpersonen aus folgenden Bereichen: Kinderbetreuung, Pflege, Bildung, Soziale Arbeit, Altenpflege und andere Gesundheitsberufe, Hauswirtschaft, Reinigung, Detailhandel, Gastronomie und weitere personenbezogene Dienstleistungen, unbezahlte Haus- und Familienarbeit sowie feministische Wissenschaft.

 

2. Die angemessene Vertretung der Frauen, d.h. 50 Prozent in allen bereits bestehenden und zukünftigen Expert*innengremien zur Bewältigung der Krise auf den Ebenen von Bund, Kantonen und Gemeinden.

 

3. Ein landesweites Hilfspaket «Care-Arbeit»: Alle Kosten der Corona-Krise in den Bereichen Bildung, Betreuung und Pflege müssen vom Bund «à fonds perdu» getragen werden, sowohl in bezahlten wie auch in unbezahlten Arbeitsverhältnissen. Die Zusatzbelastung der vergangenen und möglicherweise zukünftigen Monate in diesen Bereichen muss entlöhnt werden.

 

4. Eine bessere öffentliche Finanzierung und Entlöhnung systemrelevanter Tätigkeiten im Care-Sektor. Es braucht eine nationale Strategie zur Organisation und Finanzierung der Care-Arbeit, die der Sorge und Versorgung der ganzen Bevölkerung dient und nicht auf der finanziellen und zeitlichen Ausbeutung von Frauen beruht. Wir brauchen dringend eine öffentliche Debatte über die Zukunft des Service Public im Sorge- und Versorgungssektor.

 

5. Ein Gender-Budgeting der Corona-Massnahmen, das nicht nur Geldflüsse, sondern auch die Ressource Zeit berücksichtigt: Darin ist zu erfassen, wie sich die Arbeitsbelastung von Frauen und Männern (inkl. unbezahlter Arbeit) verändert hat und in welchem Umfang Frauen bzw. Männer von den gesprochenen Corona-Hilfsgeldern profitieren.

 

6. Den effektiven Schutz der Risikogruppe: Für sie muss der Zugang zu essenziellen öffentlichen Räumen möglichst risikofrei gewährleistet sein. Dieser Gesundheitsschutz kann nicht einfach der Eigenverantwortung Einzelner überlassen werden, nicht zuletzt wegen der grossen Ansteckungsgefahr durch Asymptomatische.

 

7. Eine Demokratisierung des Wissens: Alle Expert*innenpapiere der heute schon bestehenden Taskforces müssen in die Landessprachen übersetzt werden. Das Wissen, auf das sich die Regierung beruft, muss für die ganze Bevölkerung zugänglich sein. Wir fordern, dass möglichst bald eine wie in den USA bereits im April 2020 erschienene Studie zu den Folgen der Corona-Krise für Frauen und die Geschlechtergleichheit in der Schweiz in genügendem Umfang finanziert wird, damit nicht nur die statistischen Erhebungen, sondern auch entsprechende Feldforschung möglich ist. (2)

 

Eine landesweite Strategie für die Sorge- und Versorgungswirtschaft

Die Schweiz wurde in einem «Lockdown light» zum Stillstand gebracht, um das Gesundheitssystem vor einer Überlastung zu bewahren. Beim Lockdown ging es darum, die Wahrscheinlichkeit von Ansteckungen mit dem Coronavirus zu verringern. Möglichst viele Orte, wo sich Menschen treffen und somit anstecken konnten, wurden geschlossen. Nur für die Grundversorgung der Menschen unentbehrliche (systemrelevante) Dienstleistungen durften weiterhin angeboten werden. So wurden weiterhin Lebensmittel verkauft, Altersheime und Spitäler funktionierten weiter, und in der Kinderbetreuung ersetzten Notbetreuungsangebote das übliche Angebot. Für all diese Bereiche, die auch während des Lockdowns zu funktionieren hatten, wurden Regeln des Social Distancing formuliert. Für die Branchen der personenbezogenen und haushaltsnahen Dienstleistungen, d.h. für die Sorge- und Versorgungswirtschaft, hatten diese regulatorischen Eingriffe weitreichende Folgen und die Umsetzung war und ist besonders herausfordernd. Es brauchte und braucht weiterhin grosse organisatorische Anpassungen in den entsprechenden Betrieben und Institutionen. Die medizinische Versorgung und die Pflege wurden für die Aufnahme von Corona-Erkrankten mit grossem Aufwand umgebaut, das gilt ebenso für die Nahrungsmittelversorgung (Detailhandel) und die ausserfamiliäre Betreuung von Kindern von Eltern in systemrelevanten Berufen (sogenannte Notbetreuungsangebote). Auch der Bereich der unbezahlten Familien-, Freundschafts- und Nachbarschaftsarbeit war und ist stark betroffen. Eltern, die nicht in systemrelevanten Berufen tätig sind, waren aufgefordert, im Homeoffice gleichzeitig Kinder zu betreuen und darüber hinaus Verantwortung für das Homeschooling zu übernehmen.

Diesen immensen Herausforderungen, die dieser Umbau bedeutet, stehen die knappen finanziellen, zeitlichen und personellen Mittel in ebendiesen Branchen gegenüber. Bis heute gibt es keine landesweite Strategie und kein Hilfspaket (mit Ausnahme der Millionen für Kinderbetreuungsplätze) für den Bereich der Care-Arbeit während der Krise und darüber hinaus. Viele Bereiche der Sorge- und Versorgungswirtschaft sind in kantonaler Kompetenz. Das führt zu einem Flickenteppich an kantonalen Regelungen. Klar ist aber schon heute, dass grosse Zusatzausgaben auf die Kantone zukommen werden, um die Ausfälle im Gesundheitswesen, in der Kinderbetreuung, in der Altersbetreuung und in der Bildung aufzufangen. Zu befürchten (oder bereits angekündigt) sind zudem grosse Sparpakete, welche die Sorge- und Versorgungswirtschaft und damit die Frauen empfindlich treffen werden. Eines ist jedoch klar: An den Frauen darf nicht noch mehr gespart werden – im Gegenteil: Ihre Arbeit muss in Zukunft besser bezahlt werden.

 

Sorge- und Versorgungswirtschaft ins Bundeshaus

69 Prozent des gesamten Arbeitsvolumens wird in der Schweiz im Sorge- und Versorgungssektor geleistet.(3) Im Gesundheitswesen, in Altersheimen, Kitas, Tagesschulen und Schulen, im Detailhandel, in Haushalten, in der Gastronomie und in den verschiedensten Vereinen. Care-Arbeit ist im Wesentlichen Grundversorgung. Ohne Pflege, Betreuung, Essen und Trinken ginge es vielen Menschen schlecht und andere könnten nicht überleben. Care-Arbeit, also die Sorge für und die Versorgung von Menschen, ist entscheidend, wenn es um den Lebensstandard und das Wohlergehen von uns allen geht. Im Care-Sektor arbeiten überwiegend Frauen. Sie leisten nämlich rund 63 Prozent der bezahlten und 61 Prozent der unbezahlten Care-Arbeit. Ihr Anteil im Gesundheits- und Sozialwesen beträgt in Vollzeitäquivalenz gemessen über 70 Prozent, in Pflege- und Altersheimen über 80 Prozent. (4) Betrachten wir die Branchen, die im weitesten Sinne als systemrelevant gelten, fällt auf: Je mehr arbeitssparende Technologie im Spiel ist, desto höher sind die Löhne; je personennaher, gesprächs- und berührungsintensiver Tätigkeiten sind, desto tiefer sind die Löhne. Oder aber auch: Je höher der Frauenanteil in der Branche ist, desto tiefer sind die Löhne. Die von Corona ausgelöste Krise betrifft den Care-Sektor in besonderer Weise. Auf Care-Berufe – sorgende und versorgende Tätigkeiten – kann nicht verzichtet werden. Die in diesen Bereichen tätigen Frauen sind zugleich in besonderem Mass dem Infektionsrisiko ausgesetzt. (5) Wie ist es angesichts dieser Tatsachen möglich, dass care-arbeitende Frauen und ihre Organisationen im Krisenstab und anderen beratenden Gremien des Bundes nicht vertreten sind? Hier kommt die extrem ungleiche Verteilung von Macht und politischer Repräsentation zwischen den Geschlechtern zum Ausdruck. Frauen verfügen über eine enorme Erfahrung und Expertise in Bereichen, die für die Bewältigung dieser Krise zentral sind. Trotzdem haben sie weder als Expertinnen noch als Betroffene in der politischen und wirtschaftlichen Krisenbewältigung eine Stimme.

Der Bundesrat und andere Entscheidungstragende müssen sich dringend um das dafür notwendige Know-how bemühen. Dafür müssen Fachpersonen und Berufsverbände der Sorge- und Versorgungswirtschaft im Krisenstab des Bundes Einsitz nehmen, und eine eigene Taskforce «Sorge- und Versorgungswirtschaft» muss ins Leben gerufen werden. Ohne Care-Arbeitende und ihr Wissen werden wir keine tragfähigen und kohärenten Lösungen erarbeiten können.

 

(1) Care-Arbeit, Sorge- und Versorgungsarbeit, personenbezogene und haushaltsnahe Dienstleistungen werden synonym gebraucht. Siehe dazu Mascha Madörin, Zählen, was zählt. Sorge- und Versorgungswirtschaft als Teil der Gesamtwirtschaft, in: Knobloch, U. (Hg.), Ökonomie des Versorgens, Feministisch-kritische Wirtschaftstheorien im deutschsprachigen Raum, Weinheim Basel 2019, Tab. 3, S. 109/110.
(2)
 Titan M. Alon, Matthias Doepke, Jane Olmstead-Rumsey, Michèle Tertilt, The Impact of Covid-19 on Gender Equality, National Bureau of Economic Research NBER, Working Paper 26947, April 2020.

(3) Siehe Mascha Madörin, Zählen, was zählt.

(4) Siehe BFS Statistik der sozialmedizinischen Institutionen 2018 (Stand 12.11.2019, Abfrage 09.06.2020).

(5) Svenson Cornehls, Patrick Vögeli, Dominik Balmer, Wie der Lockdown den Gender Gap verschärft, in: Der Bund, 16.05.2020.